Flucht: Pro &Contra
Flucht ist kein Verbrechen
Die Angst geht um: Im Meer des globalen Elends geht unsere Insel des Wohlstands unter. Unsere europäischen Werte, die für viele Katholiken christliche Werte sind, gehen verloren. Die Welt, wie wir sie kannten, existiert nicht mehr und das christliche Abendland verschwindet.
Dass wir in einem globalen Dorf leben, ist in den letzten Monaten so klar geworden, wie selten zuvor. Und in einem solchen Dorf liegt Syrien im Vorgarten, die Ukraine in der Nachbarschaft, das von einer Hungerkatastrophe bedrohte Äthiopien befindet sich bereits im Blickfeld. Dieses Leid geht uns etwas an und hat mit unserer Lebensrealität zu tun. Und einmal mehr wird deutlich: Wohlstandsinseln sind in einem Meer von Armut auf Dauer nicht stabil.
Inmitten dieses Dorfs steht eine Kirche. In ihr predigt der Pfarrer vom heiligen Recht auf Asyl, von der Notwendigkeit die Komfortzonen zu verlassen, von der Christusbegegnung im Menschen auf der Flucht und vom Kampf gegen die Ignoranz der Bequemen, Satten und Reichen: „Die Welt kann die kolossale humanitäre Krise nicht ignorieren, die durch die Verbreitung von Gewalt und bewaffneten Konflikten entsteht.“ (Papst Franziskus auf Lesbos, April 2016)
Eines der Häuser in dem globalen Dorf heißt Österreich, die Gasse, in der es liegt, Europa. Österreich hat in den vergangenen Monaten angesichts von Krieg, Flucht und Vertreibung Großes geleistet. Gemeinsam ist Vieles gelungen. Männer, Frauen und ihre Kinder wurden menschlich versorgt. Ihnen wurde zu tausenden Schutz und Obdach gegeben. Manche sind geblieben, viele sind weitergezogen. Mehr als 15.000 Menschen haben sich seit vergangenem Sommer allein bei der Caritas als Freiwillige gemeldet – zusätzlich zu den knapp 40.000 bisher – um für Menschen in Not da zu sein.
Zehntausende haben an den Bahnhöfen, an den Grenzen und an vielen anderen Orten Großartiges geleistet und leisten ihren Dienst an unserer Gesellschaft weiterhin in der Nachbarschaftshilfe, als Dolmetscher, helfen geflüchteten Menschen bei Behördenwegen.
Hunderte Pfarren haben mehrere tausend Menschen aufgenommen. Noch nie waren in unseren Pfarren so viele Menschen aktiv, die bis dahin keinen Kirchenbezug hatten. Wenn allein im Raum der Erzdiözese Wien mehr als 250 Pfarren mit tausenden freiwillig Tätigen in den Fremden ihre Schwestern und Brüder erkennen, so ist damit Jesus in der Gesellschaft in einer Form der Orthopraxie angekommen, wie wir sie nicht für möglich gehalten haben. Diese Vorgänge verweisen auf eine lebensstiftende Zukunft der Kirche in unserem Land, die ihre Rolle als Sauerteig in einer vielfach postchristlichen Gesellschaft neu und positiv formuliert. Kirche wurde an ihren Brennpunkten in den Pfarrgemeinden und Klöstern zu einem Ort der Hoffnung für Menschen auf der Flucht, aber auch zu einem Ort der Hoffnung für jene, die ängstlich besorgt nach der Zukunft des Christlichen fragen. In diesen Tagen wird das Evangelium in unsere Wirklichkeit neu hineinbuchstabiert. Barmherzigkeit wird gelebt: konkret, vielfältig und kreativ, vor allem aber ganz nah am Bild Jesu von der Menschenfreundlichkeit Gottes.
Europa und Österreich kann, um mit den Worten von Papst Franziskus zu sprechen, „die Größe der europäischen Seele wiederentdecken, die aus der Begegnung von Zivilisationen und Völkern entstanden ist“ und so „zum Vorbild für neue Synthesen und des Dialogs“ werden.
Wenn uns nach christlicher Überzeugung im Fremden und Hungrigen Christus selbst begegnet, so bedeutet das für uns als Kirche praktisch zu helfen, aber auch politisch aktiv zu sein. Wir müssen das tun, was wir tun können, nicht mehr, aber auch nicht weniger.
Und nicht zuletzt: Kirche zeigt, wie es gehen kann. Hoffnung und Barmherzigkeit, Solidarität und Zukunftsfreude, haben das letzte Wort, nicht Angst. Oder mit Papst Benedikt XVI: „Die Liebe ist möglich, und wir können sie tun, weil wir nach Gottes Bild geschaffen sind.“
Michael Landau.
Der Autor ist Caritas Direktor der Erzdiözese Wien, Präsident der Caritas Österreich
Kann Helfen unmoralisch sein?
Abendschnellzug Budapest-Wien-München, irgendwann im Spätsommer 2015, kurz hinter der ungarischen Hauptstadt. Die Klimaanlage verreckt, die Temperatur unerträglich. Ich dünste in einem leeren Abteil der stehenden Garnitur, plötzlich Geschrei am Korridor. Also neugierig hinaus. Draußen ein Handgemenge. Eine ungarische Polizistin versucht höflich, aber konsequent eine blutjunge arabische Familie, sie hochschwanger und er mit einem Säugling im Arm, zum Verlassen des Zuges zu bewegen, da sie keine Reisedokumente vorweisen können.
Das Paar wehrt sich verzweifelt, kommt immer näher. Plötzlich kollabiert die schwangere Frau, fällt und hält sich an meinen Füßen fest. Er versucht, mir den Säugling in die Hand zu drücken. In diesem Augenblick habe ich das erste Mal in meinem Leben so etwas wie intellektuelle Schizophrenie erlebt. Denn in einer derartigen Situation wird jeder halbwegs normale Mensch ganz instinktiv nur ein Bedürfnis haben, nämlich zu helfen.
Dem stand freilich nicht nur entgegen, dass es sich nicht empfiehlt, eine Rauferei mit einer ungarischen Polizistin zu beginnen. Dem stand vor allem auch die Erkenntnis gegenüber, dass es vollkommen unakzeptabel ist, wenn hunderttausende, wenn nicht gar Millionen Menschen völlig unkontrolliert nach Europa kommen. Das war ja schon damals, knapp vor dem Beginn der großen Migrationswelle, für jeden leidlich vernünftigen Menschen klar zu erkennen.
Im Grunde gab es also, entgegen dem Instinkt, keinen Grund, zu „helfen“. Die ungarische Beamtin, der das Ganze übrigens sichtbar unangenehm war, vollzog lediglich, was notwendig war. An meinem Gefühl völliger Hilflosigkeit änderte das freilich nichts.
Ich berichte diese marginale Episode deswegen so ausführlich, weil sie en Miniature das groteske Versagen der österreichischen Politik in den folgenden Monaten des willkommenskulturellen Karnevals spiegelt. Denn jene heute ja schon wieder weitgehend verdrängte Willkommenskultur war ja nicht nur Ausdruck privater Hilfsbereitschaft verantwortungsbewusster Bürger. Sie war bis zu ihrer Abwrackung zum Jahresbeginn 2016 ja durchaus auch politische Doktrin, die das staatliche Handeln leitete. War ja kein Zufall, dass sich die höchsten Spitzen der Republik auf den Bahnhöfen drängelten.
Und hier beginnt das Problem. So sehr es dem Einzelnen gut ansteht, Menschen in Not beizustehen, ohne die Folgen zu bedenken, so wenig ist dies für den Staat insgesamt eine vernünftige Handlungsoption.
Ein Einzelner kann durchaus ankündigen: „Ich werde jedem helfen, der an meine Tür klopft“. Ein Staat, der das Gleiche annonciert, wird damit seine staatliche Existenz und sein soziales Gefüge gefährden und letztlich verlieren, weil er einfach überrannt werden wird. In Schweden lässt sich schon jetzt ganz gut studieren, wie sich so etwas anfühlt, obwohl Schweden im letzten Moment die Notbremse gezogen hat.
Wie es in völlig infantilisierten Gesellschaften üblich ist, hat sich Österreichs Politik im vergangenen Herbst ausschließlich von Gefühlen leiten lassen, die den Einzelnen auszeichnen, als Leitlinie staatlichen Handelns aber zum Scheitern verurteilt sind. Zur Wahrnehmung der staatlichen Verantwortung Angesichts der Massenmigration gehört natürlich vor allem, die Souveränität darüber zu behalten, wer zu uns kommen darf und wer nicht, dabei die Gesetze zu beachten und nicht anarchische Willkür zu dulden wie im Herbst 2015.
Spät, sehr spät scheint die Politik das erkannt zu haben. Mit den schädlichen Auswirkungen der bis dahin begangenen Fehler werden wir noch sehr lange zu kämpfen haben. Und was aus jener jungen arabischen Familie im Zug wurde, weiss ich nicht. Ich hoffe, es geht ihnen gut.
Christian Ortner.
Der Autor ist Journalist. Er schreibt regelmäßige Kolumnen in "Die Presse"
und "Wiener Zeitung", www.ortneronline.at